Abstract
Thomas Geisen und Tobias Studer stellen sich in ihrem Beitrag den theoretischen Grundlagen einer kulturellen Praxis jenseits dichotomer Weltdeutungen, durch die individuelle und soziale Prozesse von Stigmatisierung und Ausgrenzung befördert werden
In den öffentlichen Debatten im Kontext Migration stehen vielfach Exotisierungen und Skandalisierungen kultureller Differenzen im Mittelpunkt. Jenseits davon geht es in den wissenschaftlichen Debatten vor allem um die Klärung der Bedeutung von Kultur im Kontext von individueller Sozialisation, gemeinschaftlicher Zusammenhänge und gesellschaftlicher Entwicklungen. Dabei steht in der Regel die Auseinandersetzung mit Migrantinnen und Migranten als den kulturell Anderen im Fokus. Klärungsprozesse verlaufen dabei vielfach entlang spezifischer kultureller Differenzlinien, wie sie etwa in der Entgegensetzung von 'traditionalistischer' versus 'modernistischer' Orientierungen zum Tragen kommen. Diese Dichotomisierungen ermöglichen Formen kultureller Zuschreibung, durch die Ausgrenzungs- und Diskriminierungspraxen legitimiert werden. Dabei werden kulturelle Merkmale essentialisiert und als stabil und unveränderlich markiert, der Kultur wird Prozesshaftigkeit abgesprochen und die im Kulturellen eingelagerten Ambivalenzen werden vereindeutigt..
Migrationsforschung sieht sich mit dem Problem konfrontiert, durch die Konstitution ihres Forschungsgegenstandes und den damit verbundenen Sortierungsprozessen zugleich eine affirmative Bestätigung der bestehenden kategorialen Bedeutungssysteme vorzunehmen, indem Kultur per se als systematische Einheit vorgestellt und konstruiert wird. Dem lässt sich ein Kulturbegriff entgegenhalten, welcher erstens Kultur, Macht und Herrschaft systematisch zusammen denkt und entsprechend kulturelle Dominanzverhältnisse berücksichtigt (Hauck, 2006, p. 18). Zweitens ermöglicht ein ambivalenter Kulturbegriff die Analyse biographischer Lernprozesse, die konkrete individuelle Lernprozesse, die Partizipation an gesellschaftlichen Lernprozessen und institutionelle Entwicklungen einschließen. Dies impliziert einen verallgemeinerten Migrationsbegriff, der sowohl räumlich-territorial als auch zeitlich-biographisch bestimmt wird. Während sich im Austausch und in der Kommunikation über abstrakte Kulturkonzepte Macht- und Herrschaftsverhältnisse reproduzieren, so können Kommunikation und Bildung in Migrationsprozessen nur dann gelingen, wenn die konkreten, über biographische Lernprozesse angeeigneten kulturellen Beschreibungen in ihrer Widersprüchlichkeit thematisiert und kommuniziert werden. Drittens braucht es ein materialistisches Kulturverständnis, welches die konkreten Lebensbedingungen berücksichtigt und analysiert, vor welchem Hintergrund welche Unterscheidungen eingeführt werden und was Kultur für wen bedeutet (vgl. Haug, 2011).Forschungspraktische Anleihen für die Migra-tionsforschung lassen sich insbesondere den Cultural Studies (vgl. Willis, 1979, 1991) und dem ethnopsychoanalytischen Ansatz entnehmen (vgl. Erdheim, 1982; Nadig, 1986), welche die kulturelle Etikettierung des Fremden systematisch mit der Kultur des Eigenen denken. Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten um die Bedeutung von Kultur im Kontext Migration ist hervorzuheben, dass das Recht auf Vermischung, auf transkulturelle Lernprozesse ebenso wichtig ist, wie „das Recht des Einzelnen auf seinen Rückzug in starre Identitäts-gemeinschaften“ (Mergner, 1998, p. 38).
Thomas Geisen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Migration, Arbeit und Gewalt.
Tobias Studer lic. phil.
Geboren 1977. Seit 2007 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich am Lehrstuhl für Sozialpädagogik. Studium der Pädagogik, Sozialpädagogik, Soziologie und Politikwissenschaften 1999-2007 an der Universität Zürich. Lizenziatsarbeit zu „Bildung und Begabung. Eine theoretische Auseinandersetzung zu einem vernachlässigten Zusammenhang“. Berufliche Tätigkeiten als Jugendarbeiter, Sozialpädagoge und Fachlehrer an der Volksschule. Von Juli 2008 bis März 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialpädagogik an der Universität der Bundeswehr in München. Seit 2006 im Institut für Regional- und Migrationsforschung (IRM) tätig (www.irm-trier.de).