Erol Yiildiz Abstracts
Menschen, die über die Grenze zu uns kommen, werden durch die Art unserer Einschätzung, durch unseren Blick auf sie, der bisher eine ethnisch-nationale Perspektive (S.89) hat, zu den 'Anderen'. Im öffentlichen Diskurs werden praktisch alle Berichte über Migration und Interkulturalität … entlang unterschiedlicher nationaler Herkunft betrachtet (S. 89), was auf die Macht des ethnisch-nationalen Blicks verweist.
Diese reduzierte Sichtweise schränkt das Wahrnehmen von Alltagsstrategien, Lebensweisen sowie täglich erlebter struktureller Barrieren und Diskriminierungserfahrungen von Migranten ein.
Yildiz appelliert daran, einen gelasseneren Blick auf die soziale Praxis von Menschen mit Migrationshintergrund zu werfen (S. 89), um deren unspektakuläre soziale Grammatik zu erkennen.
Einerseits zeigt sich in sozialgeschichtlichen Studien allein schon der europäischen Geschichte, dass diese von Migrationswellen geprägt wurden und die Entstehung und Urbanisierung der Städte durch migrantische Mobilität gefördert wurde. Andererseits ist auffällig, dass dieser Tatbestand im öffentlichen Gedächtnis kaum vorhanden ist. In einem Diskurs über Medien- (Der Spiegel 42/2009, S. 33 über Sarrazins Berliner Rede) und Umfrageberichte aus Deutschland und Institutsberichte aus Österreich wird verdeutlicht, dass bei genauerer Analyse die Schlussfolgerungen der Medienberichte und der Untersuchungsergebnisse nicht mit den Aussagen der befragten MigrantInnen übereinstimmen. Es zeigt sich eine festgefahrene Wahrnehmung, die aber Ausgangspunkt jeglicher Integrationsdiskurse (S. 91) ist. So werden Verhaltensweisen Einheimischer, wie Mobilität, Individualität, kosmopolitische Ausrichtung, als positiv und erstrebenswert angesehen, dies aber bei Migranten und Flüchtlingen als Problemfall bewertet.
Die migrantische Bevölkerungsgruppe wird, obwohl sehr differenziert, als 'homogene Masse', als defizitär und integrationsresistent (S. 92) wahrgenommen. Schon fast reflexartig wird Migrationsjugendlichen kulturelle Orientierungslosigkeit, daraus resultierende Gewaltbereitschaft sowie massive Probleme bei der Sozialisation unterstellt.
Yildiz schlussfolgert aus Untersuchungen der kritischen Sozialforschung, dass das gezeichnete Bild zerfallender Städte und kulturell desorientierter und gewaltbereiter jugendlicher MigrantInnen eine grobe Überzeichnung und das Ergebnis einseitiger, ideologiegeleiteter Recherchen (S. 93) sei. Und weiter: Die Klage ist überzogen, weil sie die faktische Vielfalt in den Städten von heute und die vielfältigen Lebenswirklichkeiten von MigrantInnen unterschätzt.
Also muss der Blick auf die MigrantInnen analysiert werden. Solange von den bekannten ethnischen Deutungsmustern ausgegangen wird, sind schon im Vorfeld die als defizitär und konfliktvoll zu betrachtenden Probleme festgelegt. Somit wird die Gesellschaft auf das binäre Prinzip 'Wir und die Anderen' (S. 93) reduziert. So werden Zuordnungen, wie 'zwischen zwei Kulturen' oder 'zwischen zwei Stühlen' sich zu befinden, erhalten und praktische Erfahrungen und eigene Lebensentwürfe ignoriert.
Migration wird nicht als eine Form der Mobilität und damit einer Neuorientierung sondern als ein pädagogisches Problem gesehen. Man geht davon aus, den Migranten und ihren Kindern bei der Eingliederung zu helfen, womit ihnen auch von wissenschaftlicher Seite eine 'falsche' Sozialisation unterstellt, ihre faktische familiäre Sozialisation automatisch als unvereinbar betrachtet (S.94) wird. Diese defizitorientierte Deutung hat sich bis heute gehalten und gehört in den meisten europäischen Migrationsgesellschaften zur Normalität. (S.95) Damit wird aber auch der Mythos ethnischer Identität beschworen, der nicht auf konkreten Alltagserfahrungen basiert und so Migranten automatisch zum Objekt kulturalistischer und ethnischer Stereotypisierung (S. 95) macht.
In der kritischen Migrationsforschung wird seit Jahren ein radikaler Perspektivenwechsel gefordert, … durch den Migration und MigrantInnen nicht zum folkloristischen Anschauungsobjekt, sondern zum Subjekt der Nachkriegsgeschichte werden. (S. 95)
Die Ergebnisse unserer Urbanitätsstudien zeigen …, dass auch die so genannten 'ethnischen' Zuordnungen immer schwieriger und komplizierter werden. … Pluralisierung und Diversifizierung von 'Welten' (S. 96) zeigen, dass viele Differenzierungenen zwischen Menschen vorhanden sind und es dem Einzelnen möglich ist, in unterschiedlichen Welten zu leben, sich neu u orientieren.
Mit veränderter Perspektive erst kann die selbstverständliche Alltagspraxis von MigrantInnen betrachtet werden ohne den konventionellen Diskurs (S. 97) und wie das Alltagsleben in all seinen tatsächlich vorhandenen Facetten, in ökonomischen, schulischen, politischen, nachbarschaftlichen Fragestellungen, abläuft. Damit wird eine insgesamt unspektakuläre Alltagspraxis (S. 97) erkennbar.
Fragt man migrantische Jugendliche z. B., zeigt sich, dass ihre biographischen Entwürfe nicht in ethischen Dimensionen festzulegen sind, sondern sie zeigen transnationale und kosmopolitische Bezüge. Das macht die 'banale Kosmopolitisierung' (Ulrich Beck) unserer Gesellschaft von unten deutlich. (S. 98) Neue kulturelle Ausdrucksformen migrantischer Jugendlicher und die 'Neo-Ethizität', von migrantischen Jugendlichen inszeniert, ist keine ungebrochene Tradition, kein mitgebrachter Rest der Herkunftskultur, sondern eine reflexive Neuorientierung (Unterstrichenes im Text kursiv) im Zeichen globaler Öffnungsprozesse. (S. 99) Diese Neuorientierungsphase ist ein Experimentierraum, ein Bildungsprozess, eine 'Abnabelung von Identitäten'.(Sassen 1997) Dadurch wird eine Art multiperspektivischer Sicht auf die Welt (S. 100) möglich.
Aus dieser neuen, veränderten Sicht wird deutlich, dass mobile Individuen keinen 'Identitätsnachholbedarf' haben. Sie gehören sozusagen zu prototypischen Bewohnern der Weltgeseellschaft, die sich …nicht mehr so einfach in die hegemonialen Erklärungen einordnen lassen und damit das konventionelle Verständnis von Mobilität und Sesshaftigkeit in Frage stellen. (S. 101)
Yildiz, Erol, seit 2008 Professor für Interkulturelle Bildung an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Klagenfurt. Schwerpunkte Migrationsforschung, Stadt und Migration, interkulturelle Bildung