Spracherwerb in der Migration

  • De Cillia 2013 Spracherwerb in der Migration.pdfDe Cillia Rudolf : Spracherwerb in der Migration (Informationsblätter des Referats für Migration und Schule Nr. 3/2013, Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur. | 15 S.) pdf Spracherwerb in der Migration „Ich will nicht, dass mein Kind Türkisch (Kroatisch, Serbisch, Bosnisch, ...) etc. lernt. Es soll so schnell wie möglich Deutsch lernen. Da schadet es nur, wenn es den muttersprachlichen Unterricht auch noch besucht.“ „Seine Muttersprache kann das Kind ohnehin, die braucht es nicht zu lernen. Die sprechen wir ohnehin in der Familie.“ „Man muss den fremdsprachigen Kindern verbieten, sich untereinander in ihrer Sprache zu unterhalten. Das hindert sie am Erlernen der deutschen Sprache.“ „Kroatisch- (Türkisch-, Serbisch-, Bosnisch-, ...)kenntnisse bringen den Kindern ja nichts, sie sollen lieber ordentlich Deutsch und Englisch lernen. Das können sie später brauchen.“ Derartige Argumente haben Sie so oder so ähnlich vermutlich schon einmal gehört. Sie stellen allesamt Behauptungen auf, die etwas über Zweisprachigkeit und über deren Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern bzw. über den Wert der Muttersprachen 2 von Zuwandererkindern aussagen. Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, wie die angewandte Sprachwissenschaft und Spracherwerbsforschung die sprachliche Entwicklung von zweisprachigen Minderheitenkindern sieht, vor allem Kindern von Einwanderern, deren Familiensprache in der Regel eine Sprache mit geringem Prestige ist. Die Rolle der Erstsprache beim Spracherwerb Die zentrale Rolle der Muttersprache oder Erstsprache für die sprachliche Entwicklung eines Kindes und für den Schulerfolg ist spätestens seit den 1960er Jahren pädagogisches Allgemeingut. Damals wurde in der so genannten „Sprachbarrierendiskussion“ festgestellt, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten, im deutschsprachigen Raum auch Kinder, die einen Dialekt als Muttersprache sprechen, in den an Mittelschichtnormen und an der Standardsprache orientierten Schulen benachteiligt sind (vgl. Bernstein 1970; Oevermann 1972). Außer in den Fällen von „echtem“, frühen Bilinguismus, bei dem ein Kind zwei Sprachen simultan erwirbt (z. B. weil die beiden Elternteile verschiedener Muttersprache sind), erwirbt ein Kind eben zuerst einmal diese Erstsprache. Dabei beginnt der Erstspracherwerb mit der Geburt, wenn nicht schon in der pränatalen Phase, und der Erwerb der Kerngrammatik ist bei den meisten Kindern etwa mit dem Schulalter abgeschlossen. Die Aktualisierung und Förderung der für den Menschen spezifischen Spracherwerbsfähigkeit im Erstspracherwerb, das gleichzeitige Hineinwachsen in eine bestimmte sprachliche und kulturelle Welt legen den Grundstein für den Erwerb weiterer (Zweit/Fremd-)Sprachen. Dabei ist der Erwerb der Erstsprache mit dem Schuleintritt natürlich noch nicht abgeschlossen. Wesentliche Bereiche der Grammatik, des Wortschatzes und natürlich die Rechtschreibung müssen in der schulischen Sozialisation ergänzt bzw. überhaupt erst erworben werden. Man stelle sich vor, deutschsprachige Kinder hätten keinen schulischen Deutschunterricht: Die Beherrschung der Präterita der starken Verben oder die Unterscheidung zwischen dem 3. und 4. Fall wäre für viele ein unlösbares Problem. Bei Kindern mit anderen Erstsprachen wird die Entwicklung der in der Familie erworbenen Sprache mit dem Schuleintritt meist mehr oder minder abrupt abgeschnitten. Kinder, deren Familiensprache Bosnisch, Serbisch, Kroatisch, Albanisch, Türkisch etc. ist, werden auf Deutsch alphabetisiert, die bei Schuleintritt in der Regel die schwächere Sprache ist.