Migration  Kommunen als Orte der Diversität

Wolf-D. Bukow

Diversität ist ein zur Zeit viel diskutiertes Thema. Es ist ein Thema, das zunehmend  als ein zentrales Anliegen innerhalb des kommunalen Alltags betrachtet wird. Deshalb soll es auch in diesem Zusammenhang aufgegriffen werden. Und es ist ein Thema, das offensichtlich das Zusammenleben betrifft. Folglich soll das Thema im Kontext der Stadtgesellschaft aufgegriffen werden. Die Stadtgesellschaft bildet ja den Horizont, der das urbane Leben umfasst und unter dem auch globalgesellschaftliche Vielfalt überhaupt ‚real‘ wird. Damit ist die weitere Diskussion vorgezeichnet. Zunächst wird es um Diversität, dann um das Verhältnis der Diversität zu ihrem Gegenstand, der ‚Vielfalt‘ gehen und zum Schluss wird gefragt werden, welche Folgerungen sich aus der zunehmenden ‚Vielfalt‘ (Bukow 2011a), einer ‚Vielfalt an Vielfalt‘ (Bukow 2011b) bzw. Verschiedenheit für die Stadtgesellschaft ergeben.

1.Zur aktuellen Diversitätsdebatte

Wenn man sich mit den Kommunen als Orte von Diversität befasst, dann wird man sehr schnell in eine recht eigentümliche Debatte verwickelt. Meist läuft es darauf hinaus, dass es mit der Diversität nur “halb so schlimm” sei und man sich im Grunde längst auf die eine oder andere Weise damit arrangiert habe.

Als erstes wird in der Regel darauf hingewiesen, dass es sich bei der augenblicklich so intensiv diskutierten Diversität im Grunde nur um ein vorübergehendes Phänomen handle. Und man geht wie selbstverständlich davon aus, dass alles bald wieder so wie früher sein wird. Selbst der Verweis darauf, dass man es mit einer seit langem deutlich zunehmenden Diversität zu tun habe, und dass dieser Trend mit der fortschreitenden Globalisierung weiter anhalten werde, ändert an dieser Vorstellung meist wenig. Offenbar hält man die Diversität durchweg für etwas Problematisches, was man schnell hinter sich zu bringen wünscht und versucht sie deshalb ‚klein‘ zu reden. Zwar wird in diesem Kontext schon mal konzediert, dass Diversität auch ihre positiven Seiten habe. Und das wird häufig vor allem mit ökonomischen Entwicklungen belegt.[1] Deshalb bleibe zu prüfen, inwieweit Diversität für eine Kommune etwas Nützliches sein könne. Aber in der Regel bleibt es bei der grundsätzlichen Skepsis gegenüber ‚allzu viel‘ Diversität, was nicht zuletzt mit der anhaltenden ‚Ausländerdiskussion‘ zu tun hat, nach der Diversität vor allem auf einer schwer zu verkraftenden kulturellen Vielfalt beruhe.[2] Wenn Diversität etwas Nützliches wäre, dann dürfte auch Migration, die ja in der Regel für die zunehmende Diversität verantwortlich gemacht wird, nicht so verwerflich sein. Es ist also letztlich die Migrationsdebatte, die die Diversitätsdebatte immer wieder dominiert und die letztlich für die negative Bewertung verantwortlich ist[3].

Sobald die erste Debatte abgeebbt ist und es gelungen ist, die Aufmerksamkeit auch einmal auf andere Aspekte von Diversität zu richten, wird man schnell in die Diskussion über die Gleichstellung von Frauen und über Geschlechtergerechtigkeit generell verwickelt. In diesem Kontext sei Diversität zwar seit langem schon Thema, aber man habe sich den damit verbundenen Herausforderungen längst gestellt – und zwar erfolgreich gestellt. Tatsächlich haben die meisten Kommunen schon seit vielen Jahren Gleichstellungsbeauftragte installiert und achten z. B. bei Ausschreibungen und im täglichen Schriftverkehr stets auf Geschlechtergerechtigkeit. Natürlich bleibe hier noch einiges zu tun. Doch wenn z. B. Frauen in Führungsämtern noch immer unterrepräsentiert und bei Teilzeitarbeit und niederen Tätigkeiten überrepräsentiert seien, so sei das auf ihre bislang noch immer bestehende geringere Qualifikation bzw. auf ihre Doppelbelastung zurück zu führen. Erneut läuft alles darauf hinaus, dass die Dinge irgendwie nur halb so schlimm seien und man sich im Grunde längst arrangiert hat.

Gelegentlich wird in der Debatte noch ein weiteres Thema gestreift, nämlich Behinderung. Im Kontext der Disability-Problematik wird gerne auf die EU-Antidis­kriminierungsrichtlinien und das deutsche ADG verwiesen (Bambal u.a.2009). Und schnell wird nachgehalten: Man bemühe sich längst auch in diesem Zusammenhang um einen fairen Umgang mit alltäglicher Diversität und schaffe beispielsweise barrierefreie Straßenübergänge und unterstütze inklusive Schulen. Und neuerdings wird ergänzt, man engagiere sich ja auch – neben der Familie –  besonders für sexuelle Minderheiten. Wiederum läuft es alles darauf hinaus, die Dinge seien ja nur ‚halb so schlimm‘ und ja eigentlich schon weitgehend bewältigt.

Am Ende entsteht fast immer ein abgerundetes Bild, das darauf hinausläuft, dass man sich der überkommenen Diversität unterdessen längst erfolgreich gestellt und sie weitgehend eingearbeitet habe und dass alles andere an verbliebener Diversität, die letztlich durch die im Rahmen der Globalisierung speziell durch die Migration bewirkte Diversität allenfalls eine vorübergehende Erscheinung sei und es hier nur darum gehe, diese Diversität entweder durch entsprechende Integrationsmaßnahmen in den Griff zu bekommen und so auf ein verträgliches Maß zu reduzieren oder aber sie durch restriktive Maßnahmen abzuwehren.

Im Grunde läuft es darauf hinaus, die ‚hausgemachte‘ bzw. die ‚eigene Diversität‘ gemäß den Vorstellungen von einer modernen Bürgergesellschaft als ‚gute Diversität‘ zu akzeptieren und gesellschaftlich zu verarbeiten, und jede ‚fremde Diversität‘ allenfalls dosiert einzubeziehen und sie ansonsten als ‚schlechte Diversität‘ auszugrenzen. Die Grenzen zwischen dem, was akzeptiert und dem, was letztlich außen vor bleiben soll, sind dabei erstaunlich flexibel und scheinen zumindest auf den ersten Blick noch nicht endgültig geklärt. Genauer besehen verlaufen sie irgendwie quer durch die verschiedenen Diversitäts-Phänomene hindurch. So ist man sich beispielsweise bei der Disability-Thematik einig, dass körperliche Behinderung zu den Themen gehört, die man zu akzeptieren lernen muss, während andere Formen der Behinderung weiterhin ausgegrenzt bleiben. Ähnlich ist es bei der Gender-Thematik. Die Gleichstellung der Geschlechter ist klar, aber eine Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen wird nach wie vor nur akzeptiert, wenn sie nicht mit traditionellen Familienvorstellungen konkurriert. Bei der im Kontext der Migration diskutierten Diversität ist klar, dass, wenn es um den Islam geht, weitgehend Einigkeit darin besteht, dass diese Form der religiöse Diversität ‚fremd­kulturell‘ und möglichst ‚unsichtbar‘ zu halten sei, weil sie grundsätzlich eine fundamentalistische Grundströmung aufweise. Umgekehrt werden christliche Sekten, so fundamentalistisch sie auch sein mögen, durchaus akzeptiert. Und über soziale Diversität wird in der Regel überhaupt nicht erst debattiert. Sie wird zumeist hingenommen, weil sei mit der Gesellschaftstruktur korrespondiert.

Insgesamt betrachtet ist man sich weitgehend einig darin, dass relevante Diversität etwas ist, was von außen kommt und was insofern nur unter bestimmten nicht ganz einfach zu erkennenden Bedingungen einbeziehbar ist. Man kann daraus lernen, dass die ganze Diversitätsdebatte nichts mit einer bloßen Abneigung gegenüber Veränderungen oder mit einem Fraglich-Werden von überkommenen Gewohnheiten zu tun hat, sondern von bestimmten Bedingungen, einer speziellen gesellschaftspolitischen Logik geprägt ist und offenbar so etwas wie einem Diversitätsregime unterliegt, das die Debatte überall in der politischen Öffentlichkeit und auch in der kommunalen Praxis zu prägen scheint. Wir haben es bei der Debatte um Diversität offenbar mit den Auswirkungen eines Diversitätsregimes zu tun.

2.Auf den Spuren des Diversitätsregimes

Wenn es sich bei der aktuellen Diversitätsdebatte weniger um praktische Fragen als vielmehr um eine gesellschaftpolitische Diskussion mit eine ganzen Reihe von Voraussetzungen, Annahmen und Behauptungen handelt, dann muss man noch einmal genauer hinschauen. Tatsächlich zielt die Debatte das eine Mal darauf ab, dass bestimmte Phänomene als Teil von Diversität hingenommen und zu etwas Alltäglichem erklärt werden, und das andere Mal darauf ab, dass bestimmte Phänomene als Teil von Diversität zunächst eigens bezeichnet, dann aber herausgehoben und im Sinn von etwas ‚Fremden‘ ausgegrenzt werden. Wenn das so ist, dann kann man unterstellen, dass sich dahinter ein Diversitätsregime verbirgt. Offenbar wird die Debatte um mögliche Vielfalt von gesellschaftspolitisch fest verankerten normgenerierenden Konzepten bzw. gesellschaftstypischen Narrativen bestimmt. Einerseits sorgt das Regime dafür, dass bestimmte Aspekte von Diversität in entsprechenden Kontexten gewürdigt, mitunter anschließend dethematisiert und trivialisiert werden – etwa nach dem Motto, dass diese Dinge im Grunde immer schon so waren und man sich als moderner Mensch diesen nur bewusster stellen müsse. Anderseits sorgt es dafür, dass bestimmte Aspekte von Diversität in entsprechenden Kontexten ausdrücklich identifiziert werden, gezielt definiert und schließlich erfolgreich skandalisiert werden – etwa nach dem Motto, dass solche Dinge niemals üblich waren und sich überhaupt nicht einfügen. Dabei scheint es sich mitunter keineswegs um andere, sondern um die selben Phänomene zu handeln, vorausgesetzt sie werden in unterschiedlichen Situationen oder von unterschiedlichen Gruppen praktiziert– etwa nach dem Motto, dass, wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe ist.

Die Grenzen, die das Regime von Fall zu Fall zieht, scheinen, selbst wenn sie zunächst zu einem guten Teil je nach Opportunität irgendwie variabel wirken, tatsächlich wohl fundiert zu sein. Drei Eigenschaften treten dabei ins Blickfeld:

Erstens: Bei der so gefassten Diversität handelt es sich um das Ergebnis einer gezielten gesellschaftpolitisch angeleiteten Maßnahme. Sie besteht darin, aus sehr unter­schiedlichen Verhaltensweisen, aus einer Fülle potentiell zur Verfügung stehender sozialer Gewohnheiten, aus der Breite möglicher Deutungen, Einschätzungen, aus  ganzen ‚Texten‘, oft mitsamt dem jeweiligen sozialen, kulturellen usw. Kontext etwas auszuwäh­len, zu bezeichnen und es ggf. mitsamt seinem Kontext für das Hier und Jetzt im positiven oder auch im negativem Sinn – also nach einer binären Logik – für relevant bzw. ausdrücklich für irrelevant zu erklären. Bei dieser Operation werden im Kern nur Grenzen ‚erlassen‘ bzw. Relevanzstrukturen neu definiert. Diese Relevanz-Operation wird entsprechend einem ge­sellschaftpolitisch verankerten normengenerierenden Di­versitätsregime ausgeführt.

Nur so ist es erklärlich, wenn einmal eine Fabrik ganz bewusst wie eine Moschee mit zahlreichen Minaretten gestaltet wird und einmal eine Moschee möglichst unauffällig und unter Verzicht auf Wahrzeichen wie ein Minarett gebaut werden soll. Im Bild Hugo Zietz, der die Tabak‑und Zigarettenfabrik ‚Yenidze‘ gründete (nach dem türkischen Anbaugebiet der Tabaksorte benannt). Was aus praktischen oder/und ökonomischen Erwägungen plausibel erscheint, muss noch lange nicht mit dem Diversitätsregime übereinstimmen, wie schon der Architekt der Zigarettenfabrik erleben musste.

Erbaut 1907‑1909 als erster Stahlbeton‑Skelettbau mit Wanddekorationen in Fliesentechnik, Jugendstil mit maurischen Elementen, von Martin Hammitzsch. Der Architekt wurde wegen des Entwurfes aus der Reichsarchitektenkammer ausgeschlossen.

So wird etwas in seinem Kontext mal im positiven und mal im negativem Sinn für relevant erklärt. Das hier normengenerierende Diversitätsregime ist schnell erkennbar und lässt sich durch Begriffe wie Nationale Identität, Leitkultur, Integration usw. illustrieren.

Zweitens: Da der Gegenstand dieses Regimes offensichtlich weitestgehend ohne Rekurs auf empirische Verbindlichkeiten oder gar praktische Vernunft definiert und je nach der gesellschaftlichen Diskurslage mal so und mal so binarisiert wird, wird alles getan, um zumindest im Nachhinein praktisch zu überzeugen. Dazu dienen essentialistische Verweise. Sie sollen die Plausibilität der Operation verbessern. So wird der definierten Diversität eine ‚natürliche‘, ‚empirisch nachweisbare‘ Legitimationslegende unterlegt, etwa indem man behauptet, dass etwas ‚von Natur aus‘, bzw. heute zumeist ‚aus kulturellen Gründen‘ so sei, wie behauptet wird.

Wenn bestimmte Verhaltensweisen beispielsweise als fremdkulturell ausweisbar erscheinen, kann man sie ggf. leicht abweisen und man erspart sich eine Diskussion darüber, ob das entsprechende Phänomen nicht schon immer oder zumindest schon seit langem und eventuell überall üblich ist.

Drittens: Das Diversitätsregime erzeugt Diversität operativ. Diversität entsteht hier keineswegs durch eine bloße Transformation von etwas Fremden in etwas Vertrautes, d. h. durch eine Verschiebung von Relevanzstrukturen, sondern durch gezielte Selektion und Bezeichnung. Die Operation besteht darin, aus dem Fundus dessen, was zur Hand ist (‚zuhanden‘), gezielt auszuwählen, dann zu identifizieren und zu definieren. Erst dann ist klar, was gelten und was nicht gelten soll. Entscheidend ist: Nur wenn etwas bereits zuhanden ist, als Verhaltensweise, als Deutung, als Überlieferung oder als Mitgebrachtes, kann es dieser Operation unterzogen werden. Insofern ist die Alltagserfahrung, dass man fremd nur im fremden Land sein kann, völlig richtig. Etwas muss erst präsent sein, um überhaupt zum Objekt einer Prüfung gemacht zu werden. Erst wenn etwas potentiell relevant ist, kann es qua Diversitätsregime in Diversität eingehen. Deshalb bezeichnet Diversität in der Regel nichts wirklich Neues oder Unbekanntes, sondern nur etwas, was sich aus welchen Gründen auch immer im Augenblick (noch) der Gewohnheit entzieht, bzw. indirekt gewohnheitsmäßig längst vertraut ist.

So reproduziert der nach wie vor ständig benutzte ‚Ausländer‘-begriff nicht etwa Informationen über ‚den Rest der Welt‘, sondern nur ein negatives Spiegelbild dessen, was der, der den Begriff verwendet, für ‚normal‘ hält.

Wir haben es bei der Debatte um Diversität danach eindeutig mit den Auswirkungen eines sehr ausgeprägten Diversitätsregimes zu tun – eines Regimes, das die Grenzen zwischen angeblich Gewohntem und Ungewohntem bearbeitet, die Grenzen zwischen dem, was sein soll, und dem, was nicht sein soll, innerhalb des urbanen Alltags variiert. Es geht darum, die Erfahrungen, die Verhaltensweisen, die sozialen Formate zu bearbeiten, die hier und heute präsent sind, ob sie nun schon seit langem vorliegen oder erst jüngst durch mit der Globalisierung verbundene Prozesse in die Stadtgesellschaft eingefügt wurden. Wenn Steven Vertovec (Vertovec 2006) hier sogar von Superdiversität spricht, wird deutlich, wie brisant die Situation für ein Diversitätsregime geworden ist. Es scheint extrem herausgefordert. Wichtig ist nun allerdings, sich darüber klar zu werden, welche Wege im Rahmen des Diversitätsregimes eingeschlagen werden, um zum Ziel zu kommen, wie sie im einzelnen aussehen, weil nur dann erkennbar wird, inwieweit das Diversitätsregime hier tatsächlich greift. Es spricht nämlich viel dafür, dass das Diversitätsregime keineswegs die gesamte Alltagsvielfalt erfasst.

3.Drei typische Diversitätsoperationen

Um das, was im urbanen Alltag heute an Diversität markiert wird, einschätzen zu können, kommt es darauf an, sich die unterschiedlichen Entstehungsbedingungen, genauer die unterschiedlichen Wege, die eingeschlagen werden, genauer ‚Operationsformen‘ anzuschauen. Idealtypisch betrachtet sind hier drei verschiedene Wege erkennbar, wobei die ersten beiden Wege jeweils in zwei Varianten vorliegen.

a) Eine Operationsform basiert auf einer raum-zeitlichen Zurechnungspraxis. Entweder wird etwas für relevant erklärt (inkludiert), was zu einer anderen Zeit als nicht relevant verdrängt, tabuisiert oder sogar verfolgt wurde, oder es wird umgekehrt etwas für irrelevant, für nicht zulässig oder für verboten erklärt (exkludiert), was bislang zur Hand war. Verhaltensspielräume, Deutungspotentiale oder Lebensstile usw. werden also einmal akzeptiert oder legalisiert und einmal tabuisiert bzw. ausgeschlossen und verboten. Für die erste Variante ist beispielsweise der veränderte Umgang mit sexuellen Praktiken typisch: Praktiken, die einst verfolgt wurden, werden heute unter dem Vorzeichen der Toleranz als Ausdruck kultureller Vielfalt hingenommen. Für die zweite Variante ist zum Beispiel der Umgang mit manchen religiösen Praktiken typisch: So werden bestimmte religiöse Bewegungen, wie der Fundamentalismus, der in den USA u. a in der Version des Creationismus immer beliebter wird, dennoch eigentlich nur dem Islam zugerechnet und entsprechend intensiv skandalisiert. Einst oder neuerlich verbreitete Einstel­lungen, Verhaltensweisen usw. werden zu Repräsentanten von Vielfalt erklärt und dabei bewertet. Problematisch wird so ein Verfahren in jedem Fall, wenn um der Plausibilität willen essentialistische Argumente angeführt werden. Eine Verhaltensweise wird beispielsweise ethnisiert, um sie als fremdländisch abzustempeln und abwehren zu können. werden. Andere werden in umgekehrter Absicht zur Tradition stilisiert.

b) Eine weitere Operationsform basiert auf einer situativen Zurechnungspraxis, läuft aber insofern ähnlich ab, als auch in diesem Fall etwas nur erneut gewürdigt wird, was im Prinzip schon zuhanden ist. Was bislang nur in der Situation ‚A‘ galt, wird in einen neuen Horizont gerückt und so das, was am Ort oder in der Situation ‚B‘ gilt, damit erweitert (adaptiert). So werden beispielsweise neu aufgekommene Lebensgewohnheiten oder auch nur ein neues Accessoire im Interesse ‚erweiterter Freiheitsspielräume‘ Mode. Umgekehrt kommt es aber auch häufig vor, dass etwas, was bislang als etwas Besonderes betrachtet wurde, nunmehr zu Gewohnheit wird (veralltäglicht), damit seinen besonderen Status verliert und allenfalls noch als ‚Zitat‘ wahrgenommen wird. Dieser Vorgang verweist darauf, dass der Umgang mit Vielfalt sehr viel mit Gewohnheit zu tun hat. In dem Moment, in dem etwas zur Gewohnheit geworden ist, verliert es den Status des Besonderen, obwohl die Verhaltensweise oder Mode als solche bleibt.

c) Während bei den ersten beiden Verfahren im Grunde alles beim Alten bleibt, weil ja nur Relevanzstrukturen verschoben werden, die Summe möglicher Verhaltensweisen, Deutungsweisen usw. im Grunde gleich bleibt, gibt es aber heute zunehmend den Fall, dass etwas neu gemischt wird und damit das, was bislang üblich bzw. gewohnt war, überschreitet (transzendiert). Im Kontext der aktuellen Diskussion über die Postmoderne wird immer wieder auf solche hybride Phänomene hervorbringende Entwicklungen verwiesen, beispielsweise auf das Entstehen von neuartigen Mischkulturen, Mischsprachen oder ganz neuen Kunstrichtungen. In all diesen Fällen kann man tatsächlich von einer zunehmenden Vielfalt an Vielfalt sprechen, die sicherlich weniger mit einem Diversitätsregime als vielmehr mit kreativen Potentialen einzelner Bevölkerungsgruppen zu tun hat. Diese Form der Diversität hat oft den Charakter einer Gegenbewegung und dürfte häufig aus zivilgesellschaftlichen Aktivitäten heraus entstehen.

Damit haben wir einen nicht unwichtigen Befund. Wenn man von Diversität spricht, dann geht es in der Regel darum, aus der Fülle ‚zuhandener‘ Möglichkeiten bislang nicht übliche, nicht vertraute oder nicht akzeptierte Handlungs- und Deutungsweisen auszuwählen und als weitere Handlungs- und Deutungsweisen entweder gezielt einzubeziehen oder gezielt auszugrenzen. Insoweit werden vom Diversitätsregime nur bestehende Grenzen variiert. Heute werden aber auch bestehende Möglichkeiten durch kreative Vermischung zunehmend transzendiert, so dass man von einer tatsächlichen Vermehrung von Möglichkeiten, von Vielfalt, von einer Bereitstellung neuer Optionen sprechen kann. Es liegt auf der Hand, diese Entwicklung als Alternative bzw. als Gegen­bewegung zu interpretieren und als Reaktion auf den Hegemonieanspruch des Diversitäts­regimes zu deuten, das ja im Grunde nur den Status quo verwaltet. Insofern wären die ersten beiden Wege direkt dem Diversitätsregime geschuldet, der dritte Weg eigentlich nur indirekt im Sinn einer Gegenreaktion. In diesem dritten Fall wäre es sicherlich an­gebracht, eher von ‚Vielfalt‘ als von Diversität zu sprechen

Ganz offensichtlich sind die Städte zunehmend von dieser ‚Vielfalt‘ geprägt, von einer bereits empirisch gesehen vorfindbaren, damit letzten Endes unentrinnbaren und unabwendbaren und – wie ich meine – damit auch unumkehrbar vorliegenden Vielfalt, und damit einem zunehmenden Potential an Verhaltensformaten, Sprachen, Religionen, Kulturen usw.. Es käme jetzt darauf an, das überkommene Diversitätsregime, das nur darauf aus ist, etwas selektiv einzufügen bzw. auszugrenzen, im Interesse der urbanen Bevölkerung, im Interesse der ‚Vielen als Viele‘ (Virno 2005, S. 14f) gewissermaßen von unten neu zu definieren oder einfach aufzugeben. Aus dem Blick einer Stadtgesellschaft geht es sicherlich darum, sich unterschiedlichkeitssensibel zu arrangieren, der zunehmenden Vielfalt (‚Supervielfalt‘: Bukow 2011b) angemessen Rechnung zu tragen. Freilich muss man sich dazu erst einmal über die Kräfte klar werden, die das Regime bis heute bestimmen. Nur dann kann man sich über Alternativen sachadäquat verständigen.

4.Welche Kräfte das Diversitätsregime leiten

Schaut man sich das Regime aus gesellschaftgeschichtlicher Perspektive an, so kommt man sehr schnell zu einer zunächst irritierenden Erkenntnis, nämlich dass das aktuelle Diversitätsregime offenbar eine vergleichsweise neue Erscheinung ist und zudem mit einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsphase verknüpft ist. Ein Diversitätsregime ist ja nur sinnvoll, wenn es bei der zu steuernden Thematik um eine gesellschaftlich relevan­te Thematik geht bzw. wenn die Thematik zur Steuerung des gesellschaftlichen Zusammenhalts bzw. seiner Machtstruktur wirkungsvoll eingesetzt werden kann. Solange ‚Vielfalt‘ als solche nämlich ‚konstitutiv‘ belanglos, also für den Aufbau der Gesellschaft und deren Institutionen irrelevant ist, ist ein solches Regime sinnlos.

Und tatsächlich wissen wir, dass Stadtgesellschaften im Prinzip von Beginn an auf Mobilität und damit auch auf Vielfalt basierten und dass diese beiden miteinander ver­knüpften Phänomene sogar der eigentliche Anlass dafür waren, dass sich Stadtgesell­schaften entwickelten. Offenbar waren andere Formen des Zusammenlebens und hier besonders familien- und verwandtschaftsbasierte Systeme, aber auch Stammesgesell­schaften dafür ungeeignet. Man kann die Stadtgesellschaften also als eine historisch betrachtet neuartige, alternative Form des Zusammenlebens betrachten.

Allerdings vollzog sich die Entwicklung der Stadtgesellschaften nicht linear, sondern schrittweise. Es wurden immer wieder andere Strukturvarianten entwickelt. Die Geschichte der Stadtgesellschaften ist eine Geschichte des Versuchs, ein ‚viable‘ Struktur zu entwickeln, also eine zeitangemessene Antwort auf Mobilität und damit auf ‚Vielfalt‘ zu finden. Die ersten Versuche bestanden darin, solche Gesellschaften auf ein gemein­sames spirituelles Dach hin zu verpflichten und zu diesem Zweck eine alles umgreifende Ritualisierung des Alltagsablaufs zu organisieren. Schon früh wurde klar, dass das nicht ausreichte, sondern der Aufbau von vom Einzelnen unabhängigen formal-rationalen Strukturen, Verwaltungen und formalen Interaktionsmittel (Verrechnungsgeld, Verwaltungssprachen) erforderlich wurden. Später hat man ständisch gegliederte Strukturen etabliert. Auch andere Ordnungsmuster wurden eingeführt – vor allem solche, die auf der Segregation nach der Funktion im Machtapparat, der sozialen Schicht, nach dem Beruf, nach der Sprache und/oder nach der Religion verfuhren. Erst in der Neuzeit mit der quantitativen wie qualitativen Ausweitung der Stadtgesellschaften ist es zur Ausarbeitung wirklich umfassender formaler Systeme für Recht, Politik, Wirtschaft und Ökonomie gekommen. Zugleich ist das Bewusstsein dafür geschärft worden, dass Stadtgesellschaften tatsächlich als Gesellschaften eine alternative Form des Zusammenlebens – eine mobilitäts- bzw. vielfaltsfundierte Alternative zu gemeinschaftsfundierten Konzepten darstellen. Ausgerechnet in diesem Augenblick haben sich Nationalstaaten etabliert und die Stadtgesellschaften ‚in die Pflicht genommen‘. Entscheidend ist hier, dass National­staaten, die im Zeitalter des Feudalismus verwandtschaftlichen Prinzipien lange ‚intern‘ für die Definition von Territorien anwendeten, diese nun auf den modernen Staat und auf die von ihm verwalteten Stadtgesellschaften zu übertragen versuchten. Auf Stadtgesellschaften passen aber einfach nicht verwandtschaftlich basierte Systeme. Damit werden die auf Mobilität und ‚Vielfalt‘ basierenden Gesellschaften ‘kritisch‘ (Baumann, Vertovec 2011a,b).

In dieser Situation sieht sich der Nationalstaat zur einem Migrations- bzw. Di­versitätsregime provoziert[4]. Hier interessiert nur das Diversitätsregime, das im 19. Jahr­hundert seine klarste Ausprägung im völkischen Nationalismus bzw. im Rassismus gefunden hat und so etwas wie eine freilich von Staat zu Staat variierende ‚Farbenlehre‘ kreierte, die immer um eine herrschende ‚Farbe‘ zentriert wurde.[5] Stefan Lanz spricht von einem Homogenitätsdispositiv der national homogenen Großstadt (2011, S. 116f). Er identifiziert damit genau die Basis dieses Diversitätsregimes, das letztlich aus der Generalisierung familistischer Modelle und deren Übertragung auf die Ordnung ganzer Gesellschaften resultiert. Genau das ist bis heute ein großes Problem. Bereits Ferdinand Tönnies und Georg Simmel (Bukow 2012) und ganz ähnlich auch Emil Durkheim kritisierten diese Verfahrensweise und betonten den Unterschied zwischen formal strukturierten Gesellschaften und verwandtschaftlich, bzw. völkisch modellierten Gemeinschaften. Und Simmel plädierte ganz entschieden für eine Weiterentwicklung der Stadtgesellschaften im Sinn eines weiteren Ausbaus der sie ordnenden formalen Systeme. So wollte er mehr Platz für unterschiedliche Religionen, Lebenstile, sexuelle Verhaltensweisen, Moden gewinnen. Bereits für Simmel war die ‚Vielfalt‘ der Stadtgesellschaft und ihre globale Vernetzung nichts Besonderes, sondern eine triviale Basiseigenschaft urbaner Wirklichkeit, der man schon damals, nämlich im Übergang zum 20. Jahrhundert tendenziell Rechnung getragen hatte. Wir wissen heute, dass solche vielfaltbasierten Stadtgesellschaften im Prinzip sehr viel älter als die Nationalstaaten mit ihrem Diversitätsregime sind und sich vermutlich auch von Beginn an als Alternative zu verwandtschaftlich basierten Systemen verstanden, aber jetzt mit der Entstehung von Mega-Cities erst richtig zum Zuge kommen. Die zunehmende Vielfalt steht in einem engen Zusammenhang mit zunehmender Mobilität, mit der Ausdifferenzierung überkommener wie neuer Religionen und der Entwicklung ad hoc gemischter bzw. neu geschaffener ‚Ethnizitäten‘ (Putnam u.a. 2010, S. 260ff).

5.Zu den aktuellen Bedingungen in den Kommunen

Mit dem Ende der Moderne und dem Übergang zur Postmoderne spitzen sich die Dinge zu. Auf der einen Seite ist unübersehbar, dass im Rahmen des überkommenen Diversitätsregimes nach wie vor auf die Stadtgesellschaften massiv Druck ausgeübt wird. Und noch glauben die Stadtgesellschaften offenbar, sie müssten den nationalstaatlichen Erwartungen im Blick auf deren Verständnis von Diversität irgendwie Rechnung tragen und fokussieren sich dabei vor allem auf die vorgeblich ‚Hauptschuldigen‘ und orientieren sich dabei an den nationalen Integrationsvorstellungen (‚Nationaler Integrationsplan‘[6]), der im Kern nichts anderes ist als das aktuelle Diversitätsregime. Aber auf der anderen Seite haben sie durchaus erkannt, dass die zunehmende urbane ‚Vielfalt‘ sich weder im Guten noch im Schlechten durch ein wie auch immer modelliertes Diversitätsregime einebnen lässt, sie auch gar nicht ‚integriert‘ werden kann, ja auf diese Weise auch gar nicht ‚bewältigt‘ werden darf – freilich eine verspätete Erkenntnis, weil ‚Vielfalt‘ wie gesagt seit je zu den trivialen Basiseigenschaften urbaner Gesellschaften gehört.

Es sind vor allem zwei Vorgänge, die sie zu dieser verspäteten Erkenntnis bzw. zur Rückbesinnung auf die überkommenen Fertigkeiten im Umgang mit Mobilität und ‚Vielfalt‘ gezwungen haben, nämlich die neue Mobilität und die neuen Medien:

a) Es gibt eine deutlich zunehmende Mobilität, die nur deshalb nicht mehr eigens wahrgenommen wird, weil man sie längst auch bei sich selbst für selbst­verständlich hält. Auf dieser Basis ergibt sich auch eine enorme Zunahme an Vielfalt sozialer, sprachli­cher, religiöser, kultureller usw. Ausprägung, die allerdings so lange nicht weiter registriert wird, wie man sich im eigenen Milieu bewegt. Das bedeutet, dass eine bewusste und gezielte Orientierung wich­tig wird, um einerseits angesichts zunehmender ‚Vielfalt‘ weiter praktisch handeln zu können und um anderseits nicht auf überholte Arrangements gegenüber Vielfalt zurückgreifen zu müssen bzw. nicht erneut nationalen Erzählungen auf den Leim zu gehen.[7]

b) Die neuen Medien haben dazu beigetragen, dass urbane ‚Vielfalt‘ nicht mehr so einfach assimiliert, adaptiert oder nivelliert bzw. dienstbar gemacht werden kann. Lange war es so, dass man viel Zeit hatte, sich zu arrangieren, d. h. den mehrheitlich gewohnten Lebensstil selektiv mit einigen neuen sprachlichen, religiösen oder kulturellen Zitaten anzureichern. Unterdessen praktizieren wir längst ‚just‑in‑time‘ ‑ Kommunikation, d. h. dass sich über you tube, Handy usw. voneinander getrennte Sichtweisen, Sprachen und Religionen nebeneinander und gleichzeitig auch in immer neuen Mischungen verfestigen. Das impliziert, dass ein einseitiges Einschmelzen neuer Vorstellungen verhindert wird, wie dies im Kontext des Diversitätsregimes noch erwartet wurde, und sich die ‚Vielfalt als Vielfalt‘ stabilisiert und sie im globalen Kontext in globalen sozialen Formaten, in ganzen Milieus und virtuellen Diskursgemein­schaften zu fluktuieren beginnt, und dass der gewohnheitsmäßige Umgang mit ‚Vielfalt‘ zwangsläufig in einen gewohnheitsmäßigen Umgang mit einer ‚Vielfalt an Vielfalt‘ übergeht

Diese Entwicklung prägt die Städte bis in die kleinsten Nischen hinein. Wenn man sich das bewusst macht, sieht man sich irgendwann zu der Einsicht genötigt, dass das Di­versitätsregime eine Zumutung darstellt – und das eigentlich schon immer, im Grunde der Basis der Stadgesellschaften seit je zuwider lief. Und bis heute werden die Stadtgesellschaften mit Regelungsaufgaben belastet, die sie nicht nur nicht leisten können, sondern denen sie im Interesse ihrer Bevölkerung auch gar nicht entsprechen dürfen. Vielmehr sollten sie sich ganz bewusst auf ihre althergebrachten Erfahrungen im Umgang mit ‚Vielfalt‘ zurück besinnen (Bukow 2011c).

Und das ist einfacher als gedacht. Man muss nur einen Blick darauf richten, wie selbstverständlich beispielsweise die Stadt Köln ihr Stadtwappen handhabt. Immerhin verweist das Stadtwappen einerseits auf die Heiligen Drei Könige oder genauer auf in Italien geraubte Reliquien derselben, die ursprünglich aus dem vorderen Orient stammen, und dann mit den elf Tropfen auch noch ausgerechnet auf die Legende von den elftausend ungarischen Jungfrauen, die angeblich in Köln verblieben sind.

Zweifellos kann eine solche einstmals wie selbstverständlich praktizierte Umgangsweise mit Vielfalt unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr tragen. Schon in der Geschichte der europäischen Stadt hat sich gezeigt, dass man die urbanen Strukturen immer wieder neu auf Vielfalt einstellen muss. Nützlich ist deshalb vor allem ein genauerer Blick auf die letzten 150 Jahre – eine Phase, die unter anderem für Simmel, wie gezeigt, Anlass war, einen bewussteren Umgang mit Vielfalt zu fordern. Und tatsächlich kann man in den von der ersten Globalisierung geprägten urbanen Quartieren in dieser Hinsicht bis heute viel lernen. In vielen gewachsenen Stadteilen, in den Hafen- und Handelsvierteln, den Bahnhofsvierteln und vielen industriell geprägten Quartieren kann man beobachten, wie sich der Umgang mit Vielfalt eingespielt hat und welche urbane Grammatik des Zusammenlebens dabei entstanden ist (Bukow 2010, S. 101ff). Wichtig ist aber sicherlich nicht nur, die Bedingungen für eine gezielte sozio-kulturelle Anerkennung von Unterschiedlichkeit, für die Gleichstellung innerhalb der gesellschaftlichen Systeme (Recht, Bildung, Arbeit, Wohnen, Religion usw.) und für eine echte zivilgesellschaftliche Beteiligung immer wieder anzupassen, sondern auch einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel weg von Diversitätsregime und weg von Integrationskonzepten hin zu Anerkennungskonzepten vorzunehmen und so etwas wie eine ‚unterschiedlichkeitssensible Einstellung‘ zu entwickeln und sich auf die ‚Vielfalt der Vielen‘ neu einzustellen (‚Akkommodation‘ Bukow 2010, S. 89)[8].

6.Plädoyer für eine neue Sensibilität gegenüber Unterschiedlichkeiten und einer zunehmenden Vielfalt an Vielfalt

Wenn ich hier für einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel weg vom Diversitätsregime und weg von den von dort bestimmten Integrationskonzepten hin zu Anerkennungskonzepten plädiere und so etwas wie eine ‚unterschiedlichkeitssensible Einstellung‘ fordere, so ist damit nicht einfach eine Umwertung des bislang negativ Bewerteten gemeint. Es geht nicht darum, die Vielfalt an Möglichkeiten – solcher Möglichkeiten, die lange durch nationale Erzählungen als abweichlerisch diskreditiert wurden – nunmehr umgekehrt zum einzigen Wahren zu stilisieren. Es geht darum, die den Stadtgesellschaften zunehmend eigentümlichen Unterschiedlichkeiten sensibel zu registrieren und sich darauf einzustellen (Akkommodation auf Unterschiedlichkeit). Es gibt soziale Unterschiedlichkeiten, die mit globalen Milieus korrespondieren, aber auch soziale Unterschiedlichkeiten, die auf Verarmung, Unterschichtung und Unrechtserfahrungen basieren. Gegenüber solchen Unterschiedlichkeiten, die sich auch vice versa  im Kontext der Religionen, im Kontext der Genderthematik, im Kontext von Sprachen usw. finden lassen, gilt es sensibel zu werden und sich entsprechend kritisch einzustellen.

Heute wird immer von wieder interkulturellem Verstehen durch interkulturelles Training gesprochen, wird ein neues Diversitätsmanagements nach dem Vorbild von BMW oder FORD gefordert, die Verstärkung von Deutsch als Zweitsprache, die interkulturelle Öffnung von Institutionen usw. thematisiert. Alle diese Forderungen stehen jedoch jeweils in einem spezifischen Wiederspruch zu den Bedingungen eines urbanen Zusammenleben. Verstehen zielt auf eine Fähigkeit, die Wir-Gruppen bis Gemeinschaften zu Recht gefragt sind, nicht jedoch in Gesellschaften, wo es ‚nur‘ um Verständigung geht. Das in der Wirtschaft propagierte Diversitätsmanagement zielt keineswegs auf die Entwicklung einer neuen Sensibilität gegenüber Verschiedenheit, sondern betreibt die Reduktion von Verschiedenheit in national-kultureller Manier und zielt damit auf eine methodisch-nationalistische, mithin eine normativen ‚Flexion‘ von Gewohnheiten, Verhaltensweisen, Vorstellungen, Sprachen und Religionen. Und die Bemühungen um die deutsche Sprache sind sicherlich anerkennenswert, wären sie nicht immer noch monolingual imprägniert – solange es nicht um Englisch geht. Man respektiert und würdigt nicht die zunehmende und zunehmend gleichzeitige Präsenz unterschiedlichster Sprachen im gleichen urbanen Raum. Und die Öffnung der Institutionen, so verdienstvoll sie im Einzelfall ist, wird doch in der Regel nur dazu genutzt, Menschen aus institutionskonformen Kontexten ‚behelfsweise‘ einzubeziehen und beschränkt sich meist darauf, die Anliegen der Institutionen besser an den ‚Kunden‘ zu adressieren. Es geht aber nicht darum, die Interessen des ‚Kunden‘ tatsächlich gleichberechtigt in der Institution zur Geltung zu bringen. Hier wäre es sensibler, nicht nur bloß mehr Bevölkerungsgruppen innerhalb der Institution einzubauen, sondern die Institution insgesamt auf die sich wandelnde Bevölkerung neu einzustellen und deren Interessen inhaltlich, personell und interaktiv zu berücksichtigen. Die Bevölkerung muss in der Kommune nicht nur gerecht sondern auch fair (Rawls 2010) repräsentiert sein.

Gemeint ist hier ein radikaler Perspektivenwechsel, eine Rückbesinnung auf die Bevölkerung der Stadt im Sinn einer schon immer heterogenen und heute zunehmend unterschiedlichen Bevölkerung. Es geht also darum, der Bevölkerung fair und gerecht gegenüber zu treten und sie als die Subjekte der Stadt an allem, was die Stadt als ganze betrifft, zu beteiligen. Was man kritisch im Blick auf die kommunalen Institutionen fordern muss, gilt eigentlich generell: die gesamte Bevölkerung inhaltlich, personell und interaktiv zu beteiligen. Freilich sind das schon alte Forderungen, die sich aus der demokratischen Modernisierung der Gesellschaft ableiten lassen.

Längst hat sich gezeigt, dass es einer expliziten zivilgesellschaftlichen Beteiligung der gesamten Bevölkerung und nicht nur der ‚Wahlbevölkerung‘ bedarf, weil die sich auf die Wähler stützenden überkommenen politischen Systeme schon im Kontext der Stadtgesellschaft zu schmal verankert und zu institutionskonservativ sind, um den sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen noch gerecht werden zu können. Dieses Korrektiv wird unter den Bedingungen einer Postmoderne, wo sich ein Drittel der Bevölkerung innerhalb einer Generation austauscht und dabei längst global diversifiziert, extrem wichtig. Deshalb geht es bei der neuen Sensibilität gegenüber Unterschiedlichkeiten nicht nur darum, gerecht zu verfahren, sondern eben auch fair. Und das bedeutet, Gruppierungen, Milieus und Interessen gegebenenfalls positiv zu diskriminieren, bis eine ausgeglichene Situation entstanden ist.

Diese bereits von John Rawls diskutierte Problematik führt dazu, das urbanes Handeln völlig neu zu akzentuieren. In diese Richtung verweist aber auch die Debatte über das  ‚New Urban Governance‘, nach dem die ‚Vielen als Viele‘ absichtsvoll und gezielt an den Praktiken des urbanen Lebens (New Urban Governance) beteiligt werden (Häußer­mann 2006, S. 124). Es geht dabei aber nicht nur um mehr Beteiligung an Entscheidungs­prozessen, sondern auch an und innerhalb von Institutionen wie Verwaltung oder Bildungseinrichtungen. Es mag sein, dass dies der im Kontext der Kommune so beliebten Reduktion der Probleme durch eine Reduktion von Vielfalt auf das Niveau von gestern oder vorgestern widerspricht (Baumann, Vertovec 2011b), aber es bringt das kommunale Selbstverständnis der kommunalen Wirklichkeit näher und versetzt die Stadtgesellschaft in den Stand, die ‚Vielfalt der Vielfalt‘, die von den zunehmend verschiedenen ‚Vielen‘ repräsentiert wird, als eine ganz normale Ressource zu betrachten und entsprechend selbstverständlich zu fördern. Man kann das durchaus pragmatisch begründen, da die aktuellen Veränderungen in den Städten eindeutig und eindeutig unumkehrbar sind. Man kann es auch politisch begründen, weil der, der dem nicht Rechnung trägt, die Existenzbedingungen der Stadtgesellschaft untergräbt und schnell die Mehrheit der Bevölkerung – und das durchaus zu Recht – gegen sich habe. Genau das erleben wir das ja gerade jetzt in vielen Stadtgesellschaften von Stuttgart angefangen bis zum gesamten Mittelmeerraum und darüber hinaus.

Literatur

Allemann‑Ghionda, Cristina (Hrsg.): Orte der Diversität. Formate, Arrangements und Inszenierungen. Wiesbaden: VS Verlag 2011.

Bambal, Banu (Hrsg.): Gleichstellung und Gleichbehandlung. Antidiskriminierungsarbeit als kommunale Herausforderung. Köln: Ed. Der Andere Buchladen 2009.

Baumann, Gerd; Vertovec, Steven: Conceiving Multiculturalism. From Roots to Rights. London: Routledge 2011a.

Baumann, Gerd; Vertovec, Steven: Multiculturalism and the Nation‑State. Who Recognizes Whom? London: Routledge 2011b.

Bukow, Wolf‑Dietrich (Hrsg.): Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. Online verfügbar unter www.worldcat.org/oclc/699794622.

Bukow, Wolf‑Dietrich: Urbanes Zusammenleben. Zum Umgang mit Migration und Mobilität in europäischen Stadtgesellschaften. Wiesbaden: VS Verlag für Sozial­wissenschaften 2010.

Bukow, Wolf‑Dietrich: Zur alltäglichen Vielfalt der Vielfalt ‑ postmoderne Arrangements und Inszenierungen. In: Wolf‑Dietrich Bukow, Cristina Allemann‑Ghionda (Hrsg): Orte der Diversität. Formate, Arrangements und Inszenierungen. Wiesbaden. VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011a. S.35ff.

Bukow, Wolf‑Dietrich: Vielfalt in der postmodernen Stadtgesellschaft. Ein Vorschlag für eine gemeinsame Zukunft. In: Wolf‑Dietrich Bukow (Hrsg.): Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011b, S. 207‑233.

Bukow, Wolf-Dietrich: Was heißt hier ethnische Gemeinschaftsbildung? In: Mieg, Harald A. / Sundsboe, Astrid O. / Bieniok, Majken (Hrsg.): Georg Simmel und die aktuelle Stadtforschung. Wiesbanden. VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011c. Im Erscheinen.

Bukow, Wolf‑Dietrich (2011d): Multikulturalität in der Stadtgesellschaft. In: Frank Eckardt (Hrsg.): Handbuch Stadtsoziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis­senschaften 2011d. Im Erscheinen.

Eckardt, Frank (Hrsg.): Handbuch Stadtsoziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2011.

Eichstädt‑Bohlig, Franziska (Hrsg.): Das neue Gesicht der Stadt. Strategien für die urbane Zukunft im 21. Jahrhundert; Empfehlungen der Fachkommission Stadtentwicklung der Heinrich‑Böll‑Stiftung. Berlin: Heinrich‑Böll‑Stiftung 2006.

Häußermann, Harmut: Die Stadt als politisches Subjekt. In: Franziska Eichs­tädt‑Bohlig (Hrsg.): Das neue Gesicht der Stadt. Strategien für die urbane Zukunft im 21. Jahrhundert; Empfehlungen der Fachkommission Stadtentwicklung der Hein­rich‑Böll‑Stiftung. Berlin: Heinrich‑Böll‑Stiftung 2006. S. 121‑136.

Höffe, Otfried: John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. München: Akademie Klassiker Auslegen 6. 2010.

Lanz, Stefan: Berliner Diversitäten. Das immerwährende Werden einer wahrhaften Metropole. In: Wolf‑Dietrich Bukow (Hrsg.): Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2010. S. 115‑134.

Lanz, Stephan: Berlin aufgemischt. Abendländisch, multikulturell, kosmopoli­tisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt. Bielefeld: transcript 2007.

Putnam, Robert D.; Campbell, David E.: American Grace. How Religion Divides and Unites Us. New York: Simon & Schuster 2010. Online verfügbar unter www.worldcat.org/oclc/555639536.

Rawls, John; Hinsch, Wilfried : Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M: Suhrkamp 2003.

Vertovec, Steven: In: Centre on Migration, Policy and Society Working Paper No. 25, University of Oxford. 2006.

Virno, Paolo: Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen. Berlin: 2005.

 [1] An Verweisen auf ökonomische Argumente ist kein Mangel. Vgl. beispielsweise das Diversity-Management bei großen Firmen von BMW (München) über SAP (Walldorf) bis zu FORD (Köln).

[2] So betonen die konservativen Parteien immer wieder: die multikulturelle Gesellschaft sei gescheitert. Besonders plastisch formuliert es Kanzlerin Angela Merkel auf dem Deutschlandtag der Jungen Union (JU) in Potsdam „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!" am 16.10.2010

[3] Umgekehrt wird heute vielfach auch die Diversity-Debatte benutzt, um die negative Einstellung gegenüber Zuwanderung aufzubrechen (so im Berliner Integrationskonzept vgl. Lanz 2007, 253ff und 2011)

[4] Man kann davon ausgehen, dass Migrations- und Diversitätsregime schon älter sind, aber vorher niemals so umfassend und so perfektionistisch abgestützt eingesetzt wurden. Wichtig ist hier auch zu sehen, dass es sich beim Migrationsregime um die Steuerung von Mobilität handelt, wie es beim Diversitätsregime um die Steuerung von Vielfalt geht.

[5] Insofern hat sich in Mitteleuropa ein arischer Rassismus, in den USA und in Australien beispielsweise ein vom weißen, englischsprachigen Protestanten ausgehender Rassismus etabliert.

[6] Beispielhaft kann dafür der Kölner Integrationsplan stehen (Konzept zur Stärkung der integrativen Stadtgesellschaft Köln o.J. von 2011)

[7]Der Blick in die Statistik verriet Vertovec noch eine weitere rekordverdächtige Eigenschaft der Mainmetropole: „Zirka 300.000 Menschen – etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung – kommen täglich in die Stadt und verlassen sie wieder".

[8]Im zitierten Text wird noch von Akkommodation auf Diversität gesprochen. Heute würde ich eher ‚Akkommodation auf Unterschiedlichkeit‘ formulieren.

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