Migration  Migration, Integration und Staatsbürgerschaft – was taugen die Begriffe noch?

Abstract

Perchinig führt die angegebenen Begriffe auf ihre Bedeutung zurück, analysiert aber gleichzeitig ihre Verwendung und damit implizit die Folgen für die Menschen, die mit beziehungsweise durch diese Deutungen bestimmt werden. Damit zusammenhängend wird hinterfragt, ob diese 'Begriffe und Schlüsselworte noch geeignet sind, die dahinter liegenden sozialen Sachverhalte zu verstehen. (S. 13) Es wird versucht, mit einem neuen Zugang Alternativen aufzuzeigen.

Nach der UNO-Definition ist ein/e internationale/r MigrantIn jemand, der/die seinen/ihren üblichen Aufenthaltsort, also den, wo sie/er sich zu Arbeit, Leben, Freizeit aufhält, verlässt und sich in einem anderen Ort (Binnenmigration, deren Umfang nicht bekannt ist, also jeweils nur durch Schätzungen erfasst werden kann), einem anderen Land niederlässt. Dauert das letztere länger als ein Jahr, spricht die UNO von einem 'Internationalen Langzeitmigranten'. Kehrt man in sein ursprüngliches  Wohnsitzland zurück, gilt man rein definitorisch und statistisch wiederum bzw weiterhin als MigrantIn. Der Migrationsbegriff ist also eine Einbahnstraße, von dem Herkunftsland oder -staat zum Zielland oder -staat. Der Begriff Migration wird ausschließlich aus dem Blickwinkel des/r Nationalstaates/n gesehen, der/die MigrantIn nur als Individuum ohne Kontakt und Beziehungen im gerade verlassenen Land. 'Eine der wichtigsten Funktionen der Migration, nämlich eine Brücke zwischen verschiedenen Welten zu schlagen, über die Wissen, Kultur, Wünsche, Sehnsüchte, Fähigkeiten und Kapital transportiert werden, tritt so aus dem Blick.' (S.17)

Integration wird heute verdächtig positiv (S.19) gesehen, allerdings gibt es keinen allgemein akzeptierten Integrationsbegriff (S. 20). Die einen verstehen darunter die Herstellung einer Chancengerechtigkeit (Caritas Schweiz), die anderen (H.C. Strache, FPÖ) eine Bringschuld, fokussiert auf das Erlernen der deutschen Sprache und auf die Beteiligung am Arbeitsmarkt.

Verstärkt wird Integration im Rahmen der Kultur in Bezug auf eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Werte diskutiert, womit gleichzeitig definiert ist, dass erfolgreiche Integration ganz im Sinne des historischen Idealbildes des Nationalstaates gesehen wird. Damit wird aber auch die Verpflichtung des Staates benannt, Integrationshindernisse zu beseitigen, um soziale Gleichheit zu ermöglichen. Allerdings werden die MigrantInnen als Opfer diskriminierender Strukturen ohne eigenes Handlungsspotential (S.22) kategorisiert.

Dieser Bezug auf Erwerb von Sprache und damit Kommunikationsfähigkeit verschleiert, nach Perchinig, die dahinter liegende, nicht offen geführte Identitätsdebatte. Dies zu belegen, führt er verschiedene Beispiele aus den in Europa populär gewordenen Integrations- und Einbürgerungstests an. Nach einem Blick auf Großbritannien und die Niederlanden analysiert er ausführlicher den österreichischen Einbürgerungstest, der aus einem Bundes-, der sich auf rechtliche und politische Fragen beschränkt, und einem Länderteil besteht. Erstaunlich intensiv ist im letzteren Teil die Konzentration auf historische Ereignisse, Persönlichkeiten, Kirchengründungen, immer bezogen auf wichtige Fakten der mittelalterlichen Erinnerungskultur des jeweiligen Bundeslandes und nicht auf Bereiche, die zur Erweiterung der politischen Partizipation verhelfen könnten.

In einem hieran anschließenden Exkurs analysiert Perchinig die Bedeutung dieser Einbürgerungstests als das moderne Mittel der Initiationsriten früherer Stammesgesellschaften, wodurch Einbürgerung … zu einem Akt des Erwachsenwerdens wird und die fremden Staatsbürger damit infantilisiert. (S. 24) Nach Perchinig enthalten  Einbürgerungstests sowohl klassische Machttechnologien, beinhalten aber auch eine 'Technik des Selbst', indem sie eine generalisierte Unterwerfungsgeste unter die Macht des Staates verlangen. (S. 25)

Heute muss von der zunehmenden Globalisierung und der massiven Aufwertung des Marktes als Medium gesellschaftlicher Interaktion (S. 31) ausgegangen werden. Der Markt bewirkt nicht Gleichheit sondern Ungleichheit, Konkurrenz, wodurch die Entwicklung nicht in Richtung der Ganzheit, sondern zu Fragmentierung von Gesellschaft und Lebenschancen geht.

Perchinig führt als neue Sichtweise die Ideen des indischen Nobelpreisträgers Amartya Sen an, der auf „Verwirklichungschancen“ fokussiert. Danach sind Einkommen und Wohlstand kein Selbstzweck sondern  nur ein Mittel für ein gelingendes Leben. Wichtig sind die Anerkennung der Person und die Möglichkeit der Entwicklung der im Menschen liegenden Potentiale. Dazu bedarf es eines 'rechtlich-strukturellen Rahmens der Gleichheit und Diskriminierungsfreiheit, … andererseits aber auch Fähigkeiten und Fertigkeiten des Individuums, … sowie die individuelle Bereitschaft, Chancen zu nutzen. (S. 33)

In weiterer Ausführung dieser Idee der Verwirklichungschancen wird der Schritt zu Antidiskriminierungs- und Bildungspolitik gelenkt, um zu zeigen, dass ersterer notwendig für gleichen Marktzugang ist, zweiterer neben Wissens- und Fertigkeitserwerb aber wichtig ist im Sinn der Anerkennung mitgebrachten symbolischen Kapitals, z.B. in Form von zertifizierten Bildungsabschlüssen; gleichzeitig bringen aber auch Sprach- und Kulturkenntnisse anderer Regionen deutlich höhere Rendite. (S. 34)

Als Abschluss wird die Problematik der Staatsbürgerschaft in der sich globalisierenden Welt diskutiert, sind doch damit Fragen zu Aufenthaltsrechten,  Arbeitsmarktzugang, politischer Teilhabe aufgeworfen. Mit dem Begriff 'denizenship' oder 'Wohnbürgerschaft' wird der automatische Zugang zu diesen Rechten auch für Nicht-Staatsbürger nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer verstanden. (S. 36)  Die Europäische Kommission spricht in diesem Zusammenhang von Zivilbürgerschaft. Auch die Rechtsstellung Drittstaatsangehöriger nimmt seit 2005 Elemente dieser Idee auf.

Inzwischen läuft die große Trennlinie zwischen StaatsbürgerInnen, UnionsbürgerInnen und langansässigen Drittstaatsangehörigen auf der einen Seite ….. und sich temporär, nur geduldet oder undokumentiert im Land aufhaltenden Menschen. (S. 36)

Nach Perchinig können diese Probleme  nur gelöst werden, wenn der Begriff der  Staatsbürgerschaft in Frage gestellt wird: Über alle Unterschiede ist Staatsbürgerschaft heute von einem Definitionsmonopol des Staates über die Zugehörigkeit geprägt. Die Rechtsansprüche des Einzelnen auf Einbürgerung sind schwach und kaum einklagbar. Der Zugang zu Staatsbürgerschaft reflektiert eine einseitige Machtbeziehung. (S. 37) Als Ziel wäre zu postulieren eine europäische Wahlbürgerschaft mit allen Rechten im jeweiligen Aufenthaltsland und allen ökonomischen Pflichten, aber keine weiteren Loyalitätsbeziehungen, also eine voluntaristische Entscheidung des Einzelnen.

Dr. Bernhard Perchinig

Geboren 1958, Klagenfurt/Celovec  1986: Dr. phil, Universität Wien (mit Auszeichnung)

Dissertation: “Wir sind Kärntner und damit hat´s sich…“ Deutschnationalismus und politische

Kultur in Kärnten. Veröffentlicht bei Drava (Klagenfurt/Celovec), 1989.

1988/89: Postdoctoral Fellow, Department of Politics, University of Strathclyde, Glasgow.

Seit 01/2003: Research Fellow, Institut für Europäische Integrationsforschung, Institut für Stadt- und Regionalforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften

Vortragender am Zentrum für Europäische Integration

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